Der weiche Stein der Identität

Der weiche Stein der Identität



Wenn ich von Identität spreche, stelle ich mir darunter etwas Festes, aus Stein Gemeißeltes vor. Und genau dort liegt der Denkfehler. Identität entwickelt sich nämlich oder eben auch nicht. Der Mensch lernt in der Auseinandersetzung mit Konflikten. Konflikte sind zunächst wertneutral, einfach Interessengegensätze. Diese verschiedenen Interessen, meine und deine, irgendwie nichtlösbar anzunehmen, muß gelernt werden, viele lernen das nie. Hier setzt auch die moderne Identitätsforschung an. Der Forscher Lothar Krappmann hat festgestellt, daß es so etwas wie Identität nicht gibt. Es gibt auf der einen Seite die Gesellschaft mit ihren Ansprüchen und es gibt auf der anderen Seite das Individuum.
Das ist ein Grundsituation jedes Menschen auf dieser Welt. Zieht der Mensch sich jetzt völlig zurück, kann er genauso wenig überleben, als wenn er sich völlig der Gesellschaft unterordnet. Das geht ja auch gar nicht. Denn was ist Gesellschaft? Gesellschaft ist eine Sammlung verschiedener, sich widersprechender Vorstellungen über Moral, Verhalten und Denken. Also muß der Einzelne dazwischen hin- und herbalancieren, er muß sich aussuchen, was er will, was er für gut empfindet und was nicht.

Diese Fakten haben Krappmann veranlaßt nicht mehr von Identität, sondern von "balancierender Ich-Identität" zu sprechen. Balancieren hat viel mit Bewegen zu tun und dies ist ganz wichtig: Es kommt in jeder Situation darauf an, die eigene Identitätsbalance neu zu behaupten. Das haben wir alle schon festgestellt. Einige Zeit sind wir gut mit unserem Weltbild gefahren und plötzlich kommt alles ins Wanken, wir merken, daß es so nicht mehr weitergeht, wir haben uns in die eigene Tasche gelogen. Denn es ist ja so schön, wenn wir endlich Sicherheit für unser Leben gefunden haben.

Gesunder Menschenverstand oder Dummheit?

Deshalb wollen übrigens auch viele Menschen einfach nichts mehr wissen oder sie lehnen es ab, Bücher zu lesen. Ihr Argument ist dann der "gesunde Menschenverstand", eine sanfte Umschreibung für Dummheit. Denn diese Menschen wollen ihre mühsam erhaltene Verhaltenssicherheit nicht ins Wanken bringen und wehren sich dagegen mit allen Mitteln. Dies ist die Einstellung der groß gewordenen Kinder. Dabei wäre es viel leichter, wenn wir akzeptieren, daß neue Situationen neue Antworten brauchen. Das wäre die Einstellung des Erwachsenen, der sich nicht scheut, alles immer neu zu sehen und jede Situation aus sich heraus zu analysieren.

(c) Michael Mahlke Remscheid - Alle Rechte vorbehalten